Zum ersten Mal habe ich die Buddenbrooks vor über einem Jahr in die Hand genommen. Ich hatte gerade begonnen, klassischere Literatur für mich zu entdecken und mich in diese für mich ganz neue Welt zu verlieben. Oder genauer: In meine Idee davon. In das Bild, wie ich super ästhetisch unter einem Baum in einem Park oder an einem verregneten Tag mit einem Tee in einem Sessel sitze und Worte, die viele Jahrzehnte alt sind, mich als junger Mensch des 21. Jahrhunderts immer noch berühren. So weit entfernt von meiner Liebe zu klassischer Literatur, die seitdem nur gewachsen ist, ist diese Vorstellung auch gar nicht. Dass die Gefühle, die ich fühle und die Worte, die sie auslösen und transportieren schon Jahrzehnte überdauern, versetzt mich immer wieder aufs Neue ins Staunen und Schwärmen.
Vor etwa einem guten Jahr aber waren die Buddenbrooks das zweite klassische Werk überhaupt, das ich lesen wollte. Die ersten dreißig oder vierzig Seiten habe ich mit Sicherheit fast zehn Mal aufs Neue gelesen. Immer wieder aufs Neue, weil ich das Buch ständig weggelegt habe. Das ist üblicher Weise nun wirklich nicht meine Manier. Aber es hat mich angestrengt. Ich bin nicht reingekommen. Und das hat mich total gefrustet. Ein bisschen bin ich selbst erstaunt, dass ich es trotzdem immer und immer wieder neu begonnen habe – anderseits hat es mir an Ehrgeiz wirklich noch nie gefehlt. Und ganz vielleicht habe ich einfach schon gespürt, dass dieses Buch etwas Besonderes ist.
„Buddenbrooks – Verfall einer Familie“ handelt von – oh Wunder – einer Familie im 19. Jahrhundert. Über mehrere Generationen hinweg erzählt der Roman das Schicksal einer Familie, die beispielhaft für viele bedeutende Familien dieser Zeit ist. Es ist eine Handelsfamilie aus Lübeck und die Firma Buddenbrook lief über Generationen gut, sehr gut sogar, doch die Zeiten ändern sich – oder ist es doch die Schuld der jungen Buddenbrooks, dass es bergab geht? Die Familie wird von wirtschaftlichen wie gesellschaftlichen und privaten Krisen heimgesucht, ihr Stand in der Gesellschaft schwindet, an der Börse wird der Familienname immer weniger groß geschrieben.
In diese Situation hineinzukommen ist nicht einfach, definitiv nicht. Das Zeitalter mit all seinen gesellschaftlichen Ordnungen, seinem historischen und politischen Kontext und seinen zu der Zeit natürlichen – für uns ungewohnten – Hierarchien und Alltagsregeln ist eben ein anderes. Ich würde behaupten, dass sich viele von uns nicht Expert*innen des 19. Jahrhunderts nennen würden und deswegen ist es nicht ganz einfach, sich in dem Roman zurechtzufinden. Ich glaube, mir ist es letzten Endes bis zum Schluss nicht vollständig gelungen. In Geschichte bin ich eine ziemliche Null und somit immer wieder mal über historische Begebenheiten und Namen gestolpert, die ich nicht zuordnen konnte. Das klingt wirklich abschreckend. Und ehrlich gesagt ist es das auch.
Aber dennoch (oder gerade deswegen!): Bitte, bitte kämpft euch durch die ersten 50 Seiten, die mit zu vielen Namen und zu langen Ortsbeschreibungen überfordern und abschrecken. Doch genau das, was euch zuerst mit Sicherheit als unnötige und zum-glück-nicht-mehr-zeitgemäße Überfüllung vorkommen wird, macht dieses Werk letzten Endes zu einer leider-nicht-mehr-zeitgemäßen Kunst – die Kunst, das Leben der Figuren zu begleiten.
Kennt ihr diese Serien, bei denen euch die Figuren irgendwie ans Herz wachsen, und ihr sie deswegen immer weiter schaut, damit ihr die Figuren und sie euch weiter begleiten können? Thomas Mann hat mir mit den Buddenbrooks gezeigt, dass Bücher das auch können (oder konnten?) und dafür nicht einmal siebenundzwanzig immer schlechter werdende Bände brauchen. Ich war traurig als ich die letzte der über 1000 Seiten zu Ende gelesen hatte und nun nie wissen werde, wie es den zuletzt Übriggebliebenen ergangen ist.
Mit Sicherheit kennen viele von euch auch aus Büchern Figuren, die sehr ans Herz wachsen. Aber durch die sehr lange und detailliert erzählte Zeitspanne, in der die Familie Buddenbrook schlicht begleitet wird, erreicht dabei noch eine ganz andere Ebene. Sie werden wie eine von diesen Familien im echten Leben, die man durch irgendwelche Verbindungen kennt und sieht, wie die Kinder groß und die Erwachsenen alt werden und obwohl niemand von ihnen jemals eine große Rolle in deinem Leben spielen wird, sind sie dir doch irgendwie nahe und du freust dich mit ihnen über gute Neuigkeiten und bist traurig, wenn jemand stirbt oder seinen Job verliert oder ernsthaft krank wird. Und genau so eine Familie sind die Buddenbrooks für mich in der Zeit des Lesens geworden.
Also nehmt euch die Zeit und gibt den Buddenbrooks eine Chance (oder auch ein paar mehr)!